Decolonize December: Unabhängigkeit der Komoren

#22 Decolonize December

Die von Frankreich seit 1961 notgedrungen und zähneknirschend zugestandene Selbstverwaltung der Komoren, mündete in eine komorische Bewegung für komplette Unabhängigkeit und für das Ende der Kolonialherrschaft. Verantwortliche aus der Selbstverwaltung organisierten ein Referendum, das am 22. Dezember 1974 abgehalten wurde. 95% der Komorer:innen stimmten für totale Unabhängigkeit. Frankreich fand das nicht so klasse und verweigerte die Anerkennung des Referendums.
Die Geschichte der Komoren ist geprägt sowohl von Ostafrikanischer und Arabischer Besiedelung, von Verschleppung und Versklavung von Afrikaner:innen durch arabische Menschenhändler, als auch von der anschließenden europäischen Kolonisierung durch die Franzosen.
Auf den 4 Inseln der Komoren, eine Inselgruppe im Indischen Ozean zwischen Mozambique und Madagaskar, leben insgesamt knapp ca. 1 Millionen Menschen und die Landschaft der Komoren mit dem üppigen Grün und den weißen Stränden im glitzernden türkisblauen Meer ist auf den ersten Blick eine paradiesische Südseekulisse.
Die Komoren sind aber heute vor allem ein Schauplatz der Festung Europa, den kaum jemand auf dem Schirm hat.
Nach dem Referendum vom 22. Dezember 1974, dessen Ergebnis Frankreich nicht schmeckte, organisierte Frankreich ein halbes Jahr danach, Mitte 1975, dann ein weiteres Referendum, das für jede Insel separat durchgeführt wurde.
Danach erklärte Frankreich die komorischen Inseln Grande Comore, Anjouan und Moheli als unabhängig aber erklärte gleichzeitig, dass die 4. Insel, Mayotte, weiterhin zu Frankreich gehören werde. Ein Manöver. Ein sehr durchsichtiges Manöver. Aber es wurde ohne Rücksicht durchgezogen. Angeblich habe die Mehrheit der Menschen in Mayotte dafür gestimmt, weiterhin Frankreich zu gehören. Aber Aktivist:innen und das Comoran Committee on Mayotte sensibilisieren seit Jahrzehnten dafür, dass das Ergebnis manipuliert war, weil Frankreich Mayotte um jeden Preis unter französischer Kontrolle und Verwaltung behalten wollte.
3 Inseln der Komoren wurden also 1975 unabhängig, während die französischen Colonizer dafür sorgten, dass Mayotte französisches Staatsgebiet wird. Ein paar hundert Quadratkilometer EU – kaum größer als München und halb so groß wie Hamburg – vor der südöstlichen Küste des afrikanischen Kontinents.
Und weil Frankreich teil der Festung Europa ist, passiert auf den Komoren bzw. zwischen den einst zusammengehörenden Inseln der Komoren dasselbe, was überall an den Grenzen der EU passiert. Menschen werden um jeden Preis gehindert, nach Mayotte zu kommen. Menschen werden dem Ertrinken überlassen. Die offiziellen Zahlen von Frankreich sprechen von ca. 10.000 Ertrunkenen bis heute. Aktivist:innen vor Ort sprechen von mindestens 30.000 Ermordeten.
Und es werden Narrative produziert, die diese menschenverachtende Politik rechtfertigen, die die Leidtragenden so entmenschlichen und degradieren, dass die Situation hingenommen wird. Die Komorer:innen, die ja so oder so weiterhin ein Volk sind, die früher frei unterwegs waren zwischen den Inseln, deren Familien verstreut sind über die 4 Inseln, sind jetzt gespalten – auch das ein bekanntes Modell.
Und es kostet nicht viel Fantasie, um zu verstehen, dass diese Inselgruppe für Frankreich einen hohen strategischen Wert hat, den es um keinen Preis aufgeben möchte – ganz abgesehen davon, dass Europäer:innen noch nie gut mit Machtverlust umgehen konnten.
Frankreich war sich auch nicht zu schade, um mehrere Coups durch einen berüchtigten französischen Söldner anzuzetteln, um die unabhängigen Inseln zu destabilisieren. Bob Denard war in der Zeit der ersten Bewegungen für Dekolonisierung Frankreichs Mann für die Drecksarbeit und war im französisch kolonisierten Afrika an 4 Putschen beteiligt gegen neue, demokratisch gewählte Volksvertreter:innen nach der Durchsetzung der Unabhängigkeit.
Die Komorer:innen, die seitdem von den unabhängigen komorischen Inseln nach Mayotte wollen, haben sehr verschiedene Motivationen und Anlässe. Manche wollen nur Verwandtschaft besuchen, manche möchten Arbeit finden, manche hoffen auf medizinische Behandlung, viele suchen eine sichere Zukunftsperspektive - die meisten. Seit 1995 wurde ein Visum eingeführt, dass Komorer:innen 100€ kostet, um eine Erlaubnis zu erhalten, nach Mayotte einzureisen. Selbst wenn das Visum ausnahmsweise erteilt wird: das kann sich fast niemand leisten. Dieses Visum drängt den einst ungehinderten Verkehr zwischen den Inseln erst recht in die gefährlichen Boote, die Kwasa Kwasa genannt werden und mit denen Komorer:innen versuchen, die 70km zwischen Anjouan und Mayotte zu überwinden. Und genau wie auf dem Mittelmeer, wird auch hier weggeschaut, sabotiert, zurückgedrängt, gemordet und Hilfeleistung unterlassen.
Die Absurdität von Nationalität und Migration wird auf den Komoren besonders klar: Komorer:innen von den unabhängigen Inseln, die ohne Visum nach Mayotte einreisen, werden in Mayotte illegale Immigrant:innen genannt – von den französischen Autoritäten, von denen die meisten wiederum weiße Nachkommen der Colonizer sind und die damit selber die illegalen Eindringlinge in diesem Kontext sind. Statt die französische Hegemonie zu kappen, werden aufgespürte Komorer:innen von den unabhängigen Inseln unter unmenschlichen und menschenunwürdigen Bedingungen in Abschiebegefängnissen untergebracht, deren Zustände auch von der Kommission für Menschenrechte der EU schon in 2008 in einem Report angeprangert wurde. Aber die europäischen Medien schauen weg und machen dieses Schlachtfeld der Festung Europa unsichtbar.
Es ist bezeichnend, dass ein ausführlicher Bericht und ausführliche Dokumentation dieser Zustände nur durch Al Jazeera zu finden ist.
Im Juni 2021 hat die französische Verwaltung in Koungou auf Mayotte eine Siedlung mit notdürftigen Hütten von Geflüchteten Komor:innen komplett zerstört, etwa 300 Unterkünfte wurden dabei zerstört und entfernt. Die Betroffenen organisierten einen Protest und brachten ihre Wut auf die Straße. Das Rathaus wurde im Zuge dessen angezündet und die lokale Presse ruft nach Sicherheit. Und es wird immer absurder:
Nun wird von offizieller Seite auf Mayotte gefordert, Frontex möge auch im Indischen Ozean die Grenzen der EU verteidigen „gegen die Angriffe“. Es wird höchste Zeit, dass diese koloniale Gewalt, die da passiert, ans Licht kommt.

Quelle:
http://migreurop.org/article2564.html?lang=fr
https://www.youtube.com/watch?v=rW6eEUxmK7Q
https://la1ere.francetvinfo.fr/mayotte/protection-de-mayotte-le-dispositif-frontex-est-il-la-solution-1117822.html
https://www.mayotte.gouv.fr/content/download/23155/177990/file/CP%20-%20Vaste%20op%C3%A9ration%20de%20d%C3%A9molition%20d%E2%80%99habitat%20insalubre%20%C3%A0%20Koungou.pdf

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