Menschenbild.

Die Grenzen zwischen gut und schlecht verlaufen nicht entlang der Nationalitäten, der Religionen, der Klassen oder irgendwelchen sonstigen Gruppenzugehörigkeiten. Die Grenzen zwischen gut und schlecht verlaufen quer durch jedes Individuum.

In jedem einzelnen Menschen liegt die Kapazität für Liebe, für Mitgefühl, für Freude, für Vergebung, für Gemeinschaft, für Rücksicht, Nachsicht und Umsicht und für die Reflexion der eigenen Handlungen und Impulse. In jedem Individuum liegt die Kapazität für Hass, für Egoismus, für Narzissmus, für Geiz, für Gier, für Rachsucht, für Rücksichtslosigkeit und Kurzsicht.

Und weil wir diese Möglichkeiten in jedem Individuum sehen und anerkennen, möchten wir eine Kultur und eine Umgebung schaffen, die die guten Eigenschaften und Verhaltensweisen fördert, sie würdigt, sie zelebriert und sie belohnt. Aktuell leben wir in einer globalen Kultur und mit einer global wirkenden neoliberalen Wirtschaftsordnung, die statt dessen Egoismus, Gier und Rücksichtslosigkeit befördert, feiert, zur Norm erhebt und finanziell belohnt.

Diese (wirtschaftliche) Systematik wird als die natürliche Ordnung der Dinge vermittelt, als eine sich angeblich aus der menschlichen Natur ergebende zwingende Form. Diese Logik bedient sich der Idee, wir seien unseren instinktiven Impulsen (Ängsten und Begierden) hilflos ausgeliefert. Wir wissen aber, dass Menschen vernunftbegabt sind, Impulse reflektieren und überwinden können. Und wir wissen auch, dass Impulse wesentlich von deren Stimulierung abhängen. Unsere Sinne und unser Gehirn werden heutzutage immer mehr und häufiger stimuliert und ein signifikanter Teil davon wird erzeugt, um Aufmerksamkeit zu bannen, Konsum anzuregen, auszulösen, aufrecht zu erhalten und zu steigern…. und dadurch den Profit.

Wir haben es aber auch wiederum nicht mit einer Ordnung zu tun, die von "schlechten, bösen Individuen" erzwungen wurde. Diese Ordnung ist vielmehr das Ergebnis unzählig vieler einzelner Entscheidungen und Verhaltensweisen, deren Beitrag zu unserer jetzigen Situation nicht unbedingt beabsichtigt war, und deren Tragweite teilweise sicher außerhalb des Ermessens des Individuums liegt.

Der Impuls, der viele Debatten beherrscht, böswillige, gierige, verschworene und persönlich Verantwortliche zu suchen für die jetzige globale Situation, die von zunehmend wachsender Ungleichverteilung gekennzeichnet ist, ist verständlich, führt aber in die Irre.

Genauso irreführend ist der Gedanke, dass es alleine der Verantwortlichkeit des Individuums - vor allem in seiner/ihrer Rolle als Konsument*in, oder aber in seiner/ihrer Eigenschaft als spirituelle Wesen - bedarf, also einer Umkehr des Bewusstseins, um das aktuell wirkende System umzukehren.

"So many years of depression make me vision The better livin', type of place to raise kids in
Open they eyes to the lies, history's told foul
But I'm as wise as the old owl, plus the Gold Child"

NAS - "If I Ruled the World" USA

Die individuelle Spiritualität nach innen und in Beziehung mit einer geistigen Einheit zu leben und zu erleben, deren Maxime für Frieden und Gemeinschaft und Liebe stehen und/oder die individuelle Lebensführung bewusst so zu gestalten, dass es einem inneren moralischen Imperativ genügt, ist sicher individuell befriedigend und schlägt sich als Faktor in der bestehenden neoliberalen Weltwirtschaftsordnung in irgendeiner Form nieder, wirkt aber nicht mittel- oder langfristig systemverändernd.

Die politischen Akteur*innen und die Akteur*innen der freien Wirtschaft haben mit der Begrenztheit ihrer jeweiligen Wissensproduktionen, Kompetenzen und Verantwortungen während der letzten Jahrhunderte Strukturen Realität werden lassen, die bis heute im Kern dieselben sind. Wir können nicht von der Erschaffung von Strukturen sprechen, da es keine generationenübergreifende, Jahrhunderte umspannende Visionen oder Entwürfe sind, die sich ein Individuum ausdachte und dann im wahrsten Sinne des Wortes erschuf. Diese Struktur passierte gewissermaßen und wurde von einzelnen Individuen, Gruppen, Nationen, Regionen mehr oder weniger mitgetragen und weitergetragen, teilweise auch abgelehnt oder boykottiert, durch Forschungen und Erfindungen hierhin und dorthin gelenkt und ihrer wuchernden Gewalt werden wir ausgeliefert dadurch, dass wir sie von Anfang an verinnerlichen.

Wenn wir eine ganzheitliche und langfristige Betrachtung dieser Entwicklung zugrunde legen, können wir identifizieren, wie dieses sich verselbständigende, selbst zerstörende System abzulenken und umzukehren ist.

Dass bis zum heutigen Zeitpunkt eine Reihe von globalen Playern heranwachsen konnten, deren Größe - wie es schon 2008 hieß - finanziell systemrelevant werden konnte, ist genauso wenig das Ergebnis individuell-teuflischer Machenschaften, wie der industrienationale Hunger nach technischer Ausrüstung, für deren Erzeugung bspw nachweislich Kinder ausgebeutet werden (Coltan-Minen im Kongo).

Die Grausamkeit liegt in dem System und in den Strukturen, nicht (oder sehr selten) im Individuum. Das Schlechte daran ist gleichzeitig das Gute daran: Wie einfach wäre es doch, müssten nur die schlechten Individuen, Gruppen, Nationen identifiziert werden und entfernt werden von ihren Rollen, Posten und Positionen.

Aber wir ahnen bereits, dass es so nicht funktioniert. Wir ahnen bereits, dass dieselben Rollen, Posten und Positionen neu besetzt würden und es keine Garantie wäre, dass ab dann die Welt eine bessere würde.

Und das ist gleichzeitig das Gute, denn um Veränderung anzustoßen, brauchen wir nicht auf Individuen oder Gruppen oder Nationen zu zeigen und sie zu dämonisieren. Stattdessen können wir uns auf die strukturverändernden Mittel und Instrumente konzentrieren und auf die gleichzeitige Förderung eines neuen Bewusstseins im einzelnen Individuum.

Strukturverändernde Mittel und Instrumente können so eingesetzt werden, dass bisherige Gestaltungen und Verhaltensweisen delegitimiert werden, so können aus systemkritischer Sicht zerstörerische Verhaltensweisen und/oder Organisationsformen entmächtigt werden, geschwächt oder abgeschafft werden.

Die Inhaber*innen der betreffenden Posten, Rollen, Positionen trifft es in ihrer Eigenschaft als Inhaber*innen dieser Positionen, nicht in ihrer Eigenschaft als Individuum mit "als schlecht beurteiltem Charakter".